Portrait 2: Wendy Hassler Forest – Kosovo
Geboren in den 80er Jahren bin ich aufgewachsen mit der Vorstellung, dass wir mit dem Fall der Berliner Mauer die Zeit der getrennten Städte hinter uns gebracht hätten. Um so verwirrender war für mich die Auseinandersetzung mit mehreren Ländern, darunter zwei in Europa, wo das Leben in getrennten Städten bis heute Realität ist. Dazu gehört auch Mitrovica.
Mitrovica liegt im Norden des Kosovo und ist seit dem Krieg vor über 20 Jahren eine geteilte Stadt. Im Norden lebt die Kosovo-Serbische im Süden die Kosovo-Albanische Bevölkerung. Es gibt zwar keine Mauer, jedoch einen Fluss und je nach politischen Entwicklungen ist die Überquerung mehr oder weniger blockiert. Mal ist die Hauptbrücke – theoretisch – offen, mal zugemauert, mal unter strenger Beobachtung, wo jede Bewegung registriert wird. Der Kontakt zwischen den Bevölkerungsgruppen war und ist immer wieder mit diversen Risiken bis hin zu Mordanschlägen, verbunden. Die beiden Stadtteile haben verschiedene Sprachen und Schriften, Telefonnetze, Behörden und Währungen, obwohl sie zum selben Land gehören. Diese Trennung, die zum Alltag geworden ist, führt immer wieder zu absurden, bis gefährlichen Situationen. Als ich vor Ort war, kam es zu einem Waldbrand in einem nahe gelegenen – noch immer mit Minen übersäten – Wald, der fast nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Grund dafür war, dass der administrative und politische Prozess, um Feuerwehrunterstützung und Zugang zum Wasser auf der «anderen Seite» zu genehmigen, viel zu viel Zeit beanspruchte und – weil man sich untereinander sprachlich schlicht nicht verständigen konnte.
Trotz dieser zahlreichen Erschwernisse gibt es Menschen, die an einen Austausch zwischen Nord und Süd glauben: Wendy Hassler Forest arbeitet für «Musik ohne Grenzen» und verfolgt seit 20 Jahren die verrückte Idee, junge Musiker*innen beider Seiten zu Rock-Bands zusammenzuführen. Verrückt, sagen die Leute, weil es keinen neutralen Ort gibt, an dem sich die Musiker:innen begegnen könnten. Verrückt, weil eine solche Begegnung in einem Blutbad enden könnte. Verrückt auch, weil Teilnehmende eines solchen inter-ethnischen Projekts von der jeweils eigenen Gemeinschaft als Verräter*innen bedroht werden könnten und auch wurden.
Wendy ist überzeugt, dass es der Musik gelingen kann, eine neue Identität für die Region und seine Bewohner:innen zu schaffen. Beim gemeinsamen Spiel rückt die ethnische Identität in den Hintergrund und die Identität als Musiker*in in den Vordergrund.
Dabei bauen sie auf einer langen Rocktradition auf. Mitrovica war lange vor dem Krieg bekannt für seine Rockkultur. Ausserdem gelingt es mit Rockmusik auch radikal denkende Jugendliche anzuziehen, die man an einem klassischen Konzert nicht finden würde und die eine besonders wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Gewaltbereitschaft der anderen Ethnie gegenüber zu mindern.
Für Schüler*innen und Bandcoaches ist das Mitwirken in der Mitrovica Rock School nicht ungefährlich, weil sie dadurch den Status Quo, also die ethnische Trennung, herausfordern. Die Schule ist ständig damit konfrontiert, sicherzustellen, dass die Jugendlichen heil in den Proberäumen und wieder Zuhause ankommen. Die Bandwochen finden aus Sicherheitsgründen im Ausland statt.
Dass Bands auch innerhalb des Kosovos gegründet werden, war jahrelang undenkbar. Doch im Frühling 2018 darf ich miterleben, wie völlig unscheinbar und unbemerkt von der Masse in einem Musikkeller eine grosse Vision Wirklichkeit geworden ist: An einem Ort der ethnischen Trennung werden inter-ethnische Bands gebildet.
Ich frage mich, wie viele solcher Visionen täglich in Erfüllung gehen, ohne dass es die Welt bemerkt. Und ich frage mich, wie sich unser Bild von der Welt und unserer Rolle in ihr ändern würde, wenn wir mehr über Mut und Wiederaufbau als über Gewalt und Zerstörung sprechen würden.
Wendy und ihr Team haben zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre unnachgiebiges Engagement hinter sich. 16 Jahre Kampf gegen härteste Kritik und die harsche Realität. 16 Jahre Glauben an etwas, was es noch nie zuvor gegeben hat.
Wie lange bleibt etwas Normalität und wie viel braucht es, damit sich diese verschiebt?
Denn eines zeigt auch dieses Beispiel klar, um es mit Hermann Hesses Worten auszudrücken:
«Wir müssen das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.»
Bilder: Lea Suter