Portrait 3: Hyung Joon Won – Korea

Mit der dritten und letzten Friedensreportage des heutigen Abends begeben wir uns zu einer der unüberwindbarsten Grenzen der Welt – die Grenze zwischen Nord- und Südkorea. Die koreanische Halbinsel wurde vor über 70 Jahren im Rahmen des Kalten Krieges in zwei Länder geteilt. Unzählige Familien wurden durch diesen sehr blutigen Krieg und die anschliessende Trennung auseinandergerissen und konnten sich seither nicht mehr begegnen. Nur schon Kontakt aufzunehmen mit den Bewohnern der «anderen Seite» ist nahezu unmöglich.

Wenn Menschen über drei Generationen hinweg nicht mehr miteinander gesprochen haben, wie kann dieses Schweigen gebrochen werden? Wenn politische Massnahmen zur Annäherung immer und immer wieder erfolglos sind, kann Musik da etwas bewirken?

Der südkoreanische Violonist Hyung Joon Won hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Musikerinnen und Musiker beider Koreas zusammenzubringen. Er träumt von einem gemeinsamen Konzert auf der Demarkationslinie oder DMZ, also der demilitarisierten Pufferzone zwischen den beiden Ländern. Ein Ort der Provokation, der jahrzehntelangen Undurchlässigkeit und des Aufeinandertreffens von zwei Ländern, zwei Machtsystemen und zwei Lebensweisen.

Ich begleite Won im Bus voller Musikerinnen und Musiker von Seoul zur Demarkationslinie. Die Teilnehmenden des Musikprojekts sind zwischen 6 Jahren jung und über 80 Jahre alt. Die einen erinnern sich noch an die Zeit vor der Trennung. Die anderen haben ihre Grosseltern noch nie gesehen. Vier Generationen machen sich auf, um an einem Ort der Trennung ein Symbol für den Frieden, für die Verbundenheit zu setzen. Zuvor hatte ich eine aufgewühlte Probewoche miterlebt: Die Beziehungen zwischen Nord und Süd waren einmal mehr eskaliert. Es ist unklar, wie nahe die nächste Katastrophe ist. Und wie ein Weg zurück, raus aus der Eskalationsspirale, möglich werden könnte.

Ich war davon ausgegangen, dass entweder die Regierung das Konzert auf der Nord-Südgrenze verbieten oder aber die Eltern ihren Kindern die Reise unter diesen Bedingungen untersagen würden. Doch sämtliche Eltern hielten am Projekt fest und die Regierungen liessen sich offenbar überreden. Am Tag der Reise hatten wir jedenfalls eine Bewilligung in der Hand. Auch am Checkpoint, dem letzten Knackpunkt, dem wir nervös entgegenfieberten, wurden wir nach dreistündiger Kontrolle durchgelassen.

Wir sind jetzt nur noch einen Kilometer von Nordkorea entfernt. Das Gelände ist rundum vermint. Die Kinder dürfen sich nur in klar definierten Zonen bewegen. Mir werden die Beine weich, bei der Vorstellung, was jeden Moment passieren könnte, wenn ein Kind sich vergisst und einem Ball nachläuft… Das GPS-Gerät zeigt keine Strassen mehr, nur noch grüne Fläche, während draussen Strassenverkehrstafeln vorbeiziehen, die kennzeichnen, wie man nach Pjöngjang, der Hauptstadt Nordkoreas kommen würde, wenn die geschlossene Grenze nicht wäre. So nahe und doch so fern.

Die einzige, welche die Demarkationslinie zu überwinden vermag, ist die Musik. Ich lausche den Klängen von Chor und Orchester, wie sie ihre Botschaft entsenden über die menschenleeren Wälder, Minenfelder und Stacheldrahtzäune hinweg zu «den andern», zum Feind, zu den Grosseltern und Urgrosstanten. Die Botschaft: Wir wollen die Wiedervereinigung. Wir gehören zusammen. Wir wollen Frieden zwischen unseren Ländern.

Ob sie jemand hört, ist ungewiss. Ob es Wirkung zeigt, ist zu bezweifeln.

Auch im Jahr meines Besuchs, 2017, gelingt es nicht, dass Musikerinnen und Musiker aus dem Norden am von Hyung organisierten Konzert teilnehmen, wie dies sein Traum wäre. Viele seiner geplanten Konzerte wurden abgesagt. Weil eine Mine explodierte, weil ein Raketentest oder Tweet die politische Lage eskalieren liess oder weil Unterstützer des Projekts in letzter Minute aus diplomatischen Gründen absprangen. Doch er wirbt weiterhin für seine Idee, für seinen Glauben an eine friedliche Zukunft und für seine Überzeugung, dass Musik eine von vielen Stufen ist, um sich gegenseitig anzunähern. Denn Musik, so Won, trainiert unsere Fähigkeit zuzuhören. Und eine Welt in der wir uns gegenseitig zuhören, wäre in vielerlei Hinsicht eine friedlichere Welt, betont Hyung.

2019 dann erhalte ich einen Anruf. Hyung: “My dream came true”. Mein Traum wurde wahr. Hyung war es gelungen, gemeinsam mit der nordkoreanischen Sopranistin Kim Song Mi ein Konzert zu organisieren, zwar in Shanghai und nicht auf der DMZ, aber immerhin. Trotz den Raketentests drei Tage zuvor.

Wer weiss, vielleicht wird das nächste Konzert mit Musikerinnen und Musiker beider Koreas auf der DMZ stattfinden – oder auch nicht. Hyung setzt Jahr für Jahr, Gesuch um Gesuch ein Zeichen, dass die Verbindungen auf der menschlichen Ebene sich nicht von der politischen Realität verdrängen lassen. Dass die Musik als Botschafterin sich weiterhin für eine gemeinsame Zukunft stark macht.

Wie auch die beiden vorangehenden Geschichten zeigt auch diese: Es braucht immer wieder unzählige kleine Schrittchen und ein sehr grosses Reservoir an Hoffnung. Die Art von Hoffnung, die Vaclav Havel beschreibt:

«Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.»

Diese Gewissheit und den Mut all derjenigen, die vorangegangen sind, wünsche ich uns allen bei unseren zahlreichen Schrittchen, die wir wagen, um ein bisschen mehr Frieden in diese Welt zu bringen. Jede und jeder auf seine eigene Art.

Vielen Dank.

Bilder: Lea Suter